Selbstverlag des geographischen Instituts der Universität Kiel
Erscheinungsjahr:
2017
Medientyp:
Text
Schlagworte:
Ernährungssouveränität
Benno Fladvad
Beschreibung:
Die Themenfelder Nahrung und Ernährung haben in den letzten Jahren nicht nur in der Humangeographie, sondern auch in breiten Gesellschaftsschichten eine hohe Aufmerksamkeit erhalten. Sowohl in Industriegesellschaften als auch in den sogenannten Ländern des Südens setzt sich ein immer stärker werdendes Bewusstsein durch, dass Nahrung „mehr“ oder „anders“ ist als eine Ware: und zwar eine politische Frage um Selbstbestimmung und soziale Gerechtigkeit. Bereits im Jahr 1996 deklarierte die Organisation La Vía Campesina – ein globales Netzwerk diverser kleinbäuerlicher Organisationen – die Forderung nach Ernährungssouveränität und formulierte damit einen umfassenden Gegenentwurf zur industriellen Landwirtschaft und zum neoliberalen Paradigma in der globalen Ernährungspolitik. Im Kern handelt es sich dabei um ein neues und nicht völkerrechtlich legitimiertes Grundrecht, bei dem es weniger darum geht, den Zugang zu Nahrungsmittel zu erlangen, sondern vielmehr selbst über die Produktion, die Verteilung und den Konsum von Nahrung zu bestimmen und sich von marktwirtschaftlichen Zwängen befreien zu können. Zwar ermöglicht dieser universelle Charakter es, die Idee der Ernährungssouveränität auf unterschiedliche regionale Kontexte zu übertragen und die Partikularinteressen verschiedener Gruppen zu einem wirkmächtigen Diskurs zu vereinen. Jedoch offenbart die Forderung auch mögliches Konfliktpotenzial und Widersprüche, v. a. hinsichtlich der Fragen, wer ernährungssouverän sein soll, welche geographische Ebene dabei im Vordergrund steht und wie genau die Regeln für eine ernährungssouveräne Gesellschaft aussehen sollen. Bislang gibt es auf diese Fragen kaum zufriedenstellende Antworten. Geschuldet ist dies der Tatsache, dass es sich weniger um ein ausdifferenziertes politisches Modell handelt, als vielmehr um eine libertäre und rechtebasierte Forderung nach Selbstbestimmung, mit der unweigerlich räumlich verfestigte Machtkonstellationen angefochten werden. In Anbetracht dieser Unklarheiten liegt der Fokus dieser Arbeit darauf, in einem ersten Schritt zu diskutieren, wie eine solche Forderung analytisch betrachtet werden kann. Dazu werden Ansätze aus der Agrarsoziologie, der Politischen Theorie, der Sozialtheorie und der Humangeographie herangezogen und miteinander verbunden. Das Ziel ist es, einen politisch-geographischen Analyseansatz zu entwickeln, mit dem die Forderung nach Ernährungssouveränität, aber auch andere rechte- und raumgebundene Forderungen nach Selbstbestimmung in ihrem empirischen Wirkungsgefüge untersucht werden können. In einem zweiten Schritt wird dieser Ansatz auf das bolivianische Beispiel übertragen, wo seit dem Jahr 2009 das erklärte Ziel besteht, eine ernährungssouveräne und postneoliberale Gesellschaft aufzubauen und sich von ökonomischer Fremdherrschaft zu befreien. Im Rahmen der empirischen Untersuchung, die auf zwei Forschungsaufenthalten in den Jahren 2013 und 2015 basiert, stehen neben den staatlichen Bemühungen vor allem zivilgesellschaftliche und kleinbäuerliche Initiativen und Aktivitäten im Vordergrund. Dabei werden die erkenntnisleitenden Fragen aufgeworfen, inwiefern es sich bei dieser Dynamik um eine politische Praxis der Selbstbestimmung handelt und auf welche Weise Räumlichkeit bzw. Maßstabsebenen mit Inhalten belegt, eingesetzt, hergestellt oder herausgefordert werden.